Das zweijährige Kind sitzt auf dem Teppich; um sich herum viele Bauklötze. Der Erwachsene baut nun vor dem Kind einen Turm; halb fertig wird der Turm mit großer Freude vom Kind umgestoßen.
Das vierjährige Kind geht auf einem Familien- oder Kindergartenspaziergang durch den Herbstwald. Es hebt ein großes goldgelbes Kastanienblatt vom Boden auf, dreht es am Stiel in der Hand, hält es hoch und läuft mit ihm als „Segel“ davon. Wenige Augenblicke später wird das Kastanienblatt als Kappe auf dem Kopf balancierend getragen.
Sechsjährige Kinder spielen im Kindergarten Zirkus; das Spiel erstreckt sich über eine Stunde; immer wieder kommen neue Gestaltungselemente in das Spielgeschehen. So entstehen die verschiedenen „Zirkusnummern“, die nötigen Assecoirs werden aus einfachen Gegenständen der Umgebung (Tüchern, Hölzern …) geschaffen, zufällig in der Nähe befindliche kleinere Kinder werden für einen Moment als Zuschauer oder Zirkustiere integriert, liebevoll werden die Eintrittskarten auf kleine Papierstücke gemalt; zum Schluss gibt es für die ganze Kindergartengruppe eine Vorführung. Die einzelnen Spielszenen unterliegen einer ständigen lebendigen Entwicklung, der Bezug zum Ganzen („Zirkus“) bleibt jedes Mal erleb- und erkennbar.
Diese drei kurz skizzierten Beispiele mögen den fortschreitenden Entwicklungsbogen des kindlichen Spiels verdeutlichen, der in den ersten Lebensjahren bis zur Schulreife beobachtbar ist. Gemeinsam allen Stufen und Erscheinungsformen ist die Tatsache, dass die Kinder keine Spielaufforderung oder Regieanweisung von außen erfahren haben, sondern dieses Spiel jeweils aus sich selbst in die Welt gesetzt haben. Es ist die spontane, d.h. aus sich selbst entstandene und keinem äußeren Zweck oder Ziel dienende Grundäußerungsform des Kindes, durch die sich das Kind in die Welt hineinstellt, sich mit ihr verbindet – zunächst nur von der Bewegung getragen, dann von der durch Bewegung freigesetzten Phantasie durchdrungen in Gestaltung übergehend, die jeweilig nur in der Gegenwart Gültigkeit hat und sofort wieder neu in Wert gesetzt wird, schließlich die in die Zukunft gerichtete Spielvorstellung, die nun geistesgegenwärtig-phantasievoll lebendig entfaltet wird.
Sind auch die Gestaltungsinhalte und beschreibbaren Spielvorstellungen natürlich vom Erfahrungsschatz der Kinder geprägt, ist doch ihre Artikulation immer wieder Ausdruck der völlig eigenen und souveränen Lebensäußerung der Kinder.
Eine zentrale Aufgabe der kindlichen Begleitung und Erziehung sieht Waldorfpädagogik in den Jahren bis zur Schulreife darin, die Bedingungen zu erfüllen, die Kinder benötigen, um sich in dieser Weise spielend frei und selbständig in die Welt hineinzustellen und sich mit ihr zu verbinden.
Da das freie kindliche Spiel keine Folge der vorstellungshaften Planung ist, sondern eben spontan erfolgt, muss die Pflege der Bedingungen für diese Äußerungsform in der Gestaltung der weitestgehenden Umgebung angesiedelt sein, nicht im direkten Einwirken auf die Kinder. Durch die Gestaltung der Umgebung müssen die nötige Sicherheit und die Anregungen garantiert sein, die dem Kind den Freiraum schaffen, spontan und aus sich heraus unmittelbar ins spielende Handeln zu kommen. Hier liegt eine zentrale Verantwortung des Erziehers.
Wesentliche Merkmale dieser Umgebungsgestaltung sind:
Die materiell räumliche Welt:
Ein Kind greift spontan in ein Regalfach, um die dort vermutete Schale mit Wachsblöckchen zum Malen zu nehmen. Im Greifen stellt es erstaunt fest, dass die Schale nicht an ihrem Platz steht. Die selbstverständliche Erwartung des Kindes ist die, dass die Dinge an ihrem Ort sind; „die Welt ist in Ordnung“, so die kindliche Grundstimmung, die gleichzeitig Sicherheit verleiht und Bestätigung darstellt für die Berechtigung des unmittelbaren Handelns, das nicht dadurch unterbrochen wird, dass erst über die Form des Besinnens die Voraussetzungen geschaffen werden müssen.
Kinder spielen mit einfachen Holzstücken; Mit viel Engagement und Phantasie wird ein Schloss mit Nebengebäuden errichtet. Nach einiger Zeit wird der Spielort verlassen; andere Kinder kommen zu den unordentlich herumliegenden Hölzern; es entsteht kein neues Spiel, vielmehr werden die Hölzer weggetreten. Die Erzieherin räumt beiläufig die Hölzer wieder in den dafür vorgesehenen Korb; kurze Zeit später lässt sich beobachten, wie wiederum Kinder kommen und nun phantasievoll ein neues konstruktives Spiel beginnen. Das Kind will ständig „aus dem Vollen schöpfen“; es benötigt eine gewisse Grundordnung, um aus ihr heraus in das phantasievolle Spiel eintreten zu können.
Ein Kind spielt mit einem perfekt ausgestatteten Auto; das Spiel orientiert sich in der Hauptsache an den Funktionen, die in den Spielgegenstand eingebaut sind. Ein freies schöpferisches Gestalten mit und um diesen Gegenstand findet nur bedingt statt. Der funktionale Spielgegenstand ist so lange für das Kind interessant, bis die in den Gegenstand eingebauten Funktionen verinnerlicht sind (vgl. Maria Montessori: „Polarisation der Aufmerksamkeit“). Das Kind benötigt eine materielle Umgebung, die funktionsfrei ist und demnach nicht nötigend wirkt. Funktionsfrei ist alles, was „natürlich“ ist, was noch nicht vom Kulturprozess ergriffen ist; so sind einfache Naturmaterialien das freie Spiel anregende Gegenstände.
Die Gestaltung der Zeit:
Jede Mutter, jeder Vater weiß, dass Kinder leichter in den Schlaf kommen, wenn sie täglich etwa zur selben Zeit Schlafen gehen. Eine gewisse Grundordnung im zeitlichen Geschehen gibt den Kindern Sicherheit, sich ganz auf das spontan einlassen zu können, was gerade ansteht. Diese Grundordnung ist jedoch kein Ausdruck formaler Pedanterie, wie gewissermaßen der maschinelle Takt, sondern – vergleichbar dem Rhythmus des Herzens – ein lebendiges Schwingen in einem lebendigen Ganzen. So ist es zum Beispiel rhythmisch, wenn das Kind an dem Abend länger aufbleiben darf, an dem die Patentante, die ganz selten zu Besuch kommt, da ist. Rhythmus ist der zeitliche Ausdruck eines Lebens, das bewusst gestaltet ist. Rhythmus wird für die Kinder auch dadurch erlebbar, dass in der Zeitenfolge quasi wiederkehrende Mahnmale liegen. Der wiederkehrende Ablauf der Zeremonie beim Zu-Bett-Bringen, gewissermaßen der Ritus, ist das Sicherheit-Verleihende. Dabei ist es kein Problem, dass Mutter hier eine andere Geste zeigt als Vater, aber dass mit Mutter ihre Geste und mit Vater seine Geste Platz greifen, ist wesentlich. So gehören zum Beispiel zum Essen die „Riten“, dass alle gemeinsam anfangen oder dass erst nach dem gemeinsamen „Gesegnete Mahlzeit“ gegessen wird. So können der Zeitraum einer Woche oder der eines Jahres als Sicherheit verleihender Rahmen erlebt werden, wenn sie im beschriebenen Sinne durch Besonderheiten der Wochentage oder durch das Feiern der Jahresfeste „rituell gegliedert“ vom Kind erlebt werden. In solch einem tragenden Rahmen kann das Kind sich frei bewegen und sicher in seinem Leben – dem Spiel – selbständig gestalten.
Im Waldorfkindergarten zeigen sich solche Sicherheit verleihende Rhythmen in der wiederkehrenden Zeitgestalt des Tages. So gliedert sich der Tag in der Regel in verschiedene Elemente wie Freispielphasen im Haus und im Garten, gemeinsames rhythmisches Gestalten im Reigen, dem Lauschen eines Märchens oder einer rhythmischen Geschichte, bestimmten hauswirtschaftlichen, handwerklichen oder künstlerischen Tätigkeiten u.s.w..
Die Woche erhält ihre Form dadurch, dass bestimmten Wochentagen bestimmte Aktivitäten vorbehalten sind, z.B. das Aquarellieren oder der Frühstücksspeiseplan.
Die vielen wiederkehrenden Jahresfeste geben dem Jahr ihre zeitliche Ordnung, und es ist immer wieder erstaunlich zu beobachten, wie tief die Kinder das Gefühl auch für solche großen Jahresrhythmen verinnerlicht haben und erwartungsvoll auf ein Fest zuleben, obwohl noch kein Wort in dem aktuellen Jahr über das Fest verloren ist.
Sicherlich ist jeder Mensch darauf angewiesen, in seiner für ihn geltenden Zeitgestalt Ordnung zu halten, um dadurch dem eigenen Leben Sicherheit zu verleihen; die größte Bedeutung dieses Phänomens liegt jedoch in den ersten Lebensjahren.
Das Verhältnis des Erwachsenen zu seinen Arbeitsaufgaben:
Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren können sich in aller Regel erfüllt in ihr eigenes Spiel einlassen, wenn sie in einer Umgebung leben, in der sie den Erwachsenen in der Nähe in eigenen sinnvollen Arbeitsprozessen erleben. „Sinnvoll“ heißt insbesonders „mit den Sinnen nachvollziehbar“. So sind Menschen, die im Haushalt arbeiten oder als Handwerker tätig sind, anregende Umgebung für das kindliche Spiel, ohne dass das Spiel sich etwa an den erlebten Arbeitsinhalten ausrichten muss. Die Qualitäten einer solchen anregenden Arbeit sind zum einen die transparenten Zusammenhänge (der Sinn des Fegens und die praktische Tätigkeit sind in ihrem Zusammenhang sofort erkennbar: sog. „Tatsachenlogik“). Zum anderen offenbart sich ihnen die Beziehung des Menschen zu seiner sinnlichen Umgebung. Der Mensch steht quasi wie der Regisseur in den Elementen seiner Umgebung: schmutzige Wäsche, Wasser … und steigert die sinnlich erlebte Welt zu einer höheren Ordnung; die Fähigkeit, souverän in der eigenen Welt zu stehen und sie im genannten Sinne zu erheben, ist sofort erkennbar, gleichermaßen die Freude am und der Fortschritt im Erwerb der Fähigkeiten. So ist bzw. wird eine solche durchschaubare und elementare Welt immer wieder Ausdruck der Souveränität des Menschen, der frei in ihr gestaltet und ihr ihren Sinn gibt. Der Erwachsene, der in seiner Welt unter ihren jeweiligen Bedingungen ihren Sinn offenbart, ist das wesentlichste Element der Anregung der Kinder zu ihrem freien Spiel, d.h. gleichermaßen frei von Nötigungen, die von außen kommen, die eigene Welt zu gestalten.
Den höchsten Zustand des Menschen sieht Friedrich Schiller dann erreicht, wenn der Mensch seinen Spieltrieb freisetzt; dieser Zustand ist dann gegeben, wenn die beiden Nötigungen und Fremdbestimmungen des Stoff- und des Formtriebs überwunden sind, wenn also nicht die sinnliche Umgebung nötigt und wenn nicht von außen auf die innere Bestimmung formend eingewirkt wird. Im freien Spiel des Kindes haben wir ein lebendiges Bild dieses höchsten Zustands im Sinne Schillers. Dazu benötigt jedoch das Kind den Erwachsenen, der sich um dieses Motiv der Freiheit bemüht.
Rudolf Steiner nennt diese innere Beziehung des Erwachsenen und des Kindes, die gewissermaßen das innere Band meint, das in der Gestaltung freilässt: Vorbild und Nachahmung. Der Erwachsene bildet eine menschliche Qualität vor, schafft gewissermaßen einen mehr oder weniger großen Entwicklungsraum, in dem sich das Kind frei und unbewusst selbstbestimmt bewegt. Nachahmung in diesem Sinne hat nichts zu tun mit einer Ähnlichkeit oder Imitation der äußeren Erscheinungen.
Da die Pädagogik des Waldorfkindergartens in ihrem Kern auf dieser intimen Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind basiert, wird unmittelbar evident, dass das Verhältnis des Erwachsenen zu seinem Lebensumkreis das entscheidende Tor für die Erziehungsqualität wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Praxis des Waldorfkindergartens nicht einem allgemeinen Programm entspringen kann, sondern dass das „Programm“ von jedem einzelnen Erzieher immer wieder neu verfasst werden muss, da sich die Lebensbedingungen immer wieder neu als Schauplatz und Widerpart der menschlichen Souveränität stellen.
Erziehung im Kindergarten heißt besonders Pflege des freien Spiels:
Die Individualität und Persönlichkeit des Kindes offenbart sich am deutlichsten im freien Spiel.
Dass das Kind sich frei und absichtslos spielend mit der Welt verbinden kann, verlangt erzieherische Gestaltung der Umgebung des Kindes.
Das Kind benötigt eine räumlich-materielle Umgebung, die „in Ordnung“ ist und dadurch Sicherheit verleiht.
Das Kind benötigt eine materielle Umgebung, die nicht in funktionale Abhängigkeit drängt. Besonders anregend ist deswegen die natürliche Umgebung, da Natur frei von Funktionen ist.
Das Kind benötigt einen verlässlichen Rhythmus in seinem Leben, da dieser Sicherheit verleiht und das Kind spontan handeln lässt.
Das Kind steht in intimer Beziehung zu den ihm verbundenen Erwachsenen und ist angewiesen auf die Gestaltung eines Freiraums, den diese schaffen und vorbilden. Vorbild und Nachahmung sind die „Zauberworte“, die dieses Verhältnis charakterisieren.