Sozialer Auftrag und Gestaltung des Organismus Kindergarten

Waldorfkindergärten entstehen nur dort, wo Menschen explizit Einrichtungen dieser Pädagogik wollen. Insofern liegen allen Waldorfkindergartengründungen individuelle Intentionen und Impulse von individuellen Menschen zugrunde.

Waldorfkindergärten entstehen nur dort, wo Menschen explizit Einrichtungen dieser Pädagogik wollen. Insofern liegen allen Waldorfkindergartengründungen individuelle Intentionen und Impulse von individuellen Menschen zugrunde. Meistens sind es Eltern, die den originären und primären Anstoß für die Bildung einer Gründungsinitiative geben; in anderen Fällen sind es Pädagogen oder aber auch Menschen, die weder als Eltern noch mit Blick auf ein eigenes Arbeitsfeld Initiatoren von Gründungen werden.

Damit ist verbunden, dass immer beteiligte und betroffene konkrete Menschen Verantwortung für das soziale Wesen Waldorfkindergarten innehaben, nie ist es ein formaler Beschluss von außen, dass irgendwo ein Kindergarten im Sinne der Waldorfpädagogik arbeiten soll.

Als Rudolf Steiner 1919 die erste Waldorfschule gründete, entsprang dieser Impuls dem Anliegen einiger Menschen, v.a. Emil Molt, dem damaligen Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, eine pädagogische Einrichtung zu schaffen, in der zum einen die Kinder zu sozialkompetenten Menschen erzogen werden, zum anderen aber der Organismus Schule bzw. Kindergarten selbst Ausdruck eines ergriffenen Sozialimpulses sein solle, in dem Grundgesetzmäßigkeiten des zwischenmenschlichen Umgangs und der Gemeinschaftsbildung verwirklicht werden sollten.

So ist es ein Grundanliegen aller Einrichtungen, die sich um Waldorfpädagogik bemühen, solche sozialen Formen zu schaffen, in denen die pädagogisch handelnden Menschen selbstbestimmt arbeiten können. Wenn Ursprung und Ziel des pädagogischen Geschehens die Qualität der Freiheit sein soll, muss die erzieherische Begegnung aus der freien Entscheidung des Pädagogen heraus gestaltet werden; es können somit keine weisungsgebundenen und weisungsabhängigen Handlungen die angestrebte Qualität ausmachen.

Freiheit heißt in diesem Zusammenhang jedoch alles andere als Willkür. Freiheit heißt, dass der Erzieher das tut, was er will, und gleichzeitig aber auch das will, was er tut, oder – im Sinne Goethes – seine Handlung liebt. Dies setzt eine stete Bereitschaft der Selbstreflexion und Selbstkorrektur voraus. Insofern braucht der Erzieher regelmäßig ein Forum, auf das eigene Handeln zurückzuschauen und sich selbst neue Ziele zu geben.

Dieses Forum ist die in der Regel wöchentliche Konferenz aller Erzieher, die ein notwendiges Pendant der Möglichkeit des freien und selbstbestimmten Handelns darstellt. Diese Konferenz ist somit ein ständiges Fort- und Weiterbildungsorgan, gleichzeitig erfolgt in ihr die Wahrnehmung von pädagogischen Führungs- und Leitungsaufgaben des Kindergartens. Außerdem sind so ständige Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsprozesse gewährleistet.

Wenn sozial einvernehmlich Freiheit die Grundlage des pädagogischen Handelns sein soll, muss weitestgehende Transparenz für alle anderen Beteiligten bestehen. Dies gilt insbesonders für die Erziehungspartner Eltern. Keine gegenseitigen Vorschriften, wie „man richtig erzieht“, sondern gegenseitig größte Transparenz des jeweilig eigenen Handelns zu erzeugen, ist sozialer Auftrag. Aus diesem Grunde gehört zum Leben eines Waldorfkindergartens ein regelmäßiger Austausch zwischen Eltern und Erziehern, der sich im Kindergarten oder aber auch bei Besuchen der Familien zuhause ereignen kann.

Freiheit im oben beschriebenen Sinne ist nur sinnvoll, wenn sie korrespondiert mit der inneren Verbindlichkeit dem Partner gegenüber, den Kindern. Ihre Bedürfnisse sind das eigentlich Motiv – Gebende. Alle Konzeptionierung der Arbeit hat ihren Zielpunkt in der Interessens- und Bedürfnislage der Kinder. So ist die passende und notwendige Qualität, die gefragt ist, „Brüderlichkeit“; d.h. Verpflichtung den konkreten und jeweiligen Bedürfnissen der betroffenen Menschen gegenüber. „Was … erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein.“ (Rudolf Steiner: Freie Schule und Dreigliederung)

In diesem Sinne ist es ein Uranliegen der Arbeit im Waldorfkindergarten, „kundenorientiert“ zu arbeiten.

Die brüderliche Gesinnung drückt sich auf der anderen Seite darin aus, dass keinem Kind oder keiner Familie die Aufnahme in den Kindergarten verwehrt wird, weil vielleicht die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie einen Besuch nicht zulassen. Die materiellen Bedingungen sind in den einzelnen Regionen und Ländern sehr unterschiedlich. In aller Regel sind aber fast überall die Eltern aufgefordert, durch entsprechende finanzielle Beiträge den materiellen Bestand des Kindergartens zu sichern. Wenn auch die Verfahren in der Finanzierung der Kindergärten im Detail sehr unterschiedlich sind, sind sie doch immer dem Anliegen verpflichtet, allen interessierten Eltern die Möglichkeit zu bieten, ihr Kind in einen Waldorfkindergarten zu schicken. Der Gedanke des Elitären im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer Schicht mit bestimmter Wirtschaftskraft ist dem Waldorfkindergarten völlig fern.

Das Leben in Gemeinschaften, so auch in einem Kindergarten, ist in seinem Kern eine Frage der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Beziehungen gestalten sich in ausgesprochenen und unausgesprochenen Verabredungen, Spielregeln und Gesetzen. Diese Regeln und Absprachen werden von Menschen geschaffen. In ihnen liegt immer der soziale Sprengstoff der Machtpositionierung. In dieser Ebene liegt auch das Feld der Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten.

Sozialgestaltung im Sinne der Arbeit im Waldorfkindergarten heißt, Entscheidungskompetenzen an die Menschen und Menschengruppen zu binden, die auch die Verantwortung für diese Entscheidungen tragen und tragen können. Diese wiederum ist erheblich gebunden an die Initiativbereitschaft zum Beispiel von Eltern und Erziehern. Diejenigen, die sich über ihre funktionale Aufgabe als Pädagogen oder Eltern hinaus für das gesamte „Unternehmen Kindergarten“ als Träger engagieren wollen, haben hier ein großes Feld der Gestaltung vor sich.

In diesem Sinne verwirklicht die Arbeit im Waldorfkindergarten in weitestgehender Weise das soziale Gestaltungsprinzip der Demokratie, dass alle, die sich engagieren wollen, in dem jeweils betroffenen und zur Rede stehenden Arbeitsfeld als Menschen gleichgestellt sind – unabhängig von individuellen Merkmalen wie z.B. persönlicher Kompetenz oder Zugehörigkeitsdauer zum Kindergarten. So kann ein Boden entstehen, auf dem das, was dann einzelne oder wenige tun oder entscheiden, von der Gemeinschaft getragen ist. Die individuelle Initiativbereitschaft – das Kapital sozialer Arbeit – , die insofern immer unsozial ist, als sie alle anderen Möglichkeiten des Handelns oder Entscheidens im Vollzug der Initiative ausschließt, wird heilsam eingebunden in den gesamten Organismus und von der ganzen Gemeinschaft getragen.

Wenn natürlich nicht alle sozialen Prozesse immer harmonisch gelingen und – wie immer im Zwischenmenschlichen – individuelle Einseitigkeiten, Eitelkeiten, Machtbedürfnisse, Fehleinschätzungen oder Inkompetenzen auch im Leben des Waldorfkindergartens ihren Platz haben, zeigt doch die beinahe 80-jährige Geschichte des Waldorfkindergartens, dass der stete Versuch, diese Grundgesten des sozialen Organismus:

individuelle Freiheit zu schützen, wo der Mensch aus seiner geistigen Intuition heraus arbeitet, sich brüderlich den Bedürfnissen der anderen verpflichtet zu fühlen und alle betroffenen Menschen gleich zu achten, wenn es um die gemeinsamen Spielregeln und Verabredungen geht, zu pflegen und zu beachten, dass hieraus eine sozial tragfähige Basis erwachsen kann. Diese erweist sich zum einen als verlässliche Grundlage, ohne vorzuschreiben, wie sich Menschen in diesem oder jenem Falle zu verhalten haben, zum anderen eröffnet sie stets die Möglichkeit, die konkreten Aufgaben der jeweilig erlebten und aktuellen sozialen Realität aufzugreifen, ohne weltanschaulich oder dogmatisch sich gebunden zu fühlen.

Die Veränderung vieler Waldorfkindergärten in Deutschland zum Beispiel von „klassischen Kindergärten“ für Kinder ab vier Jahren bis zum Schuleintritt mit einer Öffnungszeit während der Schulzeit bis zum Mittag hin zu ganzjährig geöffneten Tagesstätten, in die Kleinkinder oder auch Schulkinder integriert sind, sind beredtes Zeugnis dieser Veränderungsmöglichkeit und -bereitschaft. Darüberhinaus übernehmen viele Waldorfkindergärten durch das vielfältige Engagement der Eltern, Erzieher und verbundenen Freunde für den Umkreis oder Stadtteil Aufgaben kultureller Angebote, die den Kindergarten zu einem Ort werden lassen, in dem auch die Erwachsenen – in der Hauptsache die Eltern – einen Ort kultureller Heimat finden, an dem auch ihre Fragen und Kultur- und Bildungsbedürfnisse der Erwachsenenwelt Antworten oder Gestaltungsraum finden.

Rudolf Steiners Uridee, mit der Waldorfpädagogik auch Orte zu schaffen, die zu „Keimzellen der Kulturerneuerung“ werden, lässt sich im Leben vieler Waldorfkindergärten weltweit wiederfinden. Für diesen „Kulturerneuerungsimpuls“ gibt es kein besseres Entfaltungsklima als die Umgebung von kleinen Kindern. Sie tragen immer wieder neue Motive und Fragen an die älteren Menschen heran, und nie ist der Mensch so bereit, Neues aufzugreifen, wie im verbindlichen Lebenszusammenhang mit kleinen Kindern. So darf abschließend behauptet werden, dass der Waldorfkindergarten der Ort ist, an dem die erwachsenen Menschen sich bemühen, den erzieherischen Ruf der Kinder zu hören und bereit zu sein, von ihnen in jeglicher Hinsicht immer wieder zu lernen.