Es ist unumstritten, dass der Mensch um so mehr lernt, je jünger er ist. Die Fortschritte, die beispielsweise ein Kind im ersten Jahr erringt, sind qualitativ und quantitativ unendlich größer, als ein Erwachsener in einem vergleichbaren Zeitraum an Entwicklung erfahren kann.
Von großer Bedeutung ist natürlich die Frage, wie der Mensch in den verschiedenen Zeiten seines Lebens lernt. So kann es geschehen, dass ein fünfjähriges Kind gefragt wird, was es gestern erlebt hat, und es erzählt etwas, was überhaupt nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Begründung für dieses Phänomen ist die, dass die Vorstellung, die das Kind entwickelt, gebunden ist an die sinnliche Wahrnehmung. Wird die (erinnernde) Vorstellung von etwas sinnlich angeregt, kann das Kind jedes Detail berichten, direkt gefragt, erzählt es nichts oder vielleicht etwas Erfundenes.
Die Vorstellungskraft ist noch in weiten Teilen gebunden an die Sinneswahrnehmung; ja, es ist gerade ein besonderes Merkmal des Entwicklungsschrittes der Schulreife, dass sich die Vorstellungskraft emanzipiert und dadurch erst unmittelbar ansprechbar ist.
Dies bedeutet, dass im Vorschulalter der Lebensraum des Kindes sein eigentlicher Lernraum ist. Das, was an sinnvollen Prozessen und Ereignissen um das Kind geschieht, bildet das Lernfeld; Lernen ist kein zentraler, sondern ein peripherer Prozess. Das Kind lernt nicht in der Distanz seiner selbst zu den Ereignissen, sondern in der Eingebundenheit in diese.
Dies weist auf eine weitere Charakteristik der kindlichen Persönlichkeit vor der Schulreife hin: Mit der sinnlichen Wahrnehmung erlebt das Kind gleichzeitig den den Erscheinungen innewohnenden „Sinn“, so z.B. das Motiv der Handlung, also die „intim menschliche Seite“ der sinnlich isolierten Handlung. Die Frage, ob inneres Wesen und äußere Erscheinung der Handlung identisch sind, ist für das Kind im Sinnesprozess beantwortet. In seiner Entwicklungspsychologie charakterisiert Rudolf Steiner dieses Phänomen der kindlichen Persönlichkeit mit den Worten, dass das Kind „ganz Sinnesorgan“ ist.
Hier liegt gleichzeitig der Schlüssel für die didaktische Konzeption des Waldorfkindergartens: Das Leben in einer Gruppe entspricht dann den Bedürfnissen der Kinder, wenn das Leben selbst und unmittelbar reichhaltig an natürlichen und selbstverständlichen menschlich – sinnvollen Handlungen, Erscheinungen und Begebenheiten ist, wenn quasi ein volles Lebensgeschehen stattfindet.
Dazu gehört, dass die gewöhnlichen Verrichtungen eines menschlichen Tagesgeschehens sinnvoll, freudig und transparent erfolgen, so z.B. die Zubereitung der täglichen Mahlzeiten, das Decken des Tisches, das Reinigen und Aufräumen der Wohnung, das Schmücken der Wohnung, wenn es entsprechende Anlässe gibt, die Gestaltung der Wohnung in der Art, dass sich die betroffenen Menschen in ihr wohl fühlen, das herzliche Empfangen von „Besuch“, wenn z.B. der Briefträger mit der Post hereinschaut, gegebenenfalls das Reparieren kaputter Gegenstände, das gemeinsame Singen und Erzählen, das Feiern von Festen, „wie sie gerade fallen“.
Kurzum: Je voller und selbstredender das Leben im Kindergarten ist, desto anregender als „Lernfeld“ ist die Umgebung für das Kind; wesentlich ist die Tatsache, dass das Leben „echt“ ist und dass es dadurch Heiterkeit, Freude und Leichtigkeit verbreitet. So sind die Gedanken Rudolf Steiners verständlich, wenn er im Zusammenhang der Beschreibung fördernder Entwicklungsbedingungen des Kindes in der Vorschulzeit zentral und mehrfach den Begriff der „Heiterkeit“, der „Freude am Leben“ einfügt.
Gleichzeitig bedeutet dies, dass alles, was einem isolierten Lernprozess der Kinder dient, der kindlichen Lernhaltung nicht entspricht. Jegliche vom Leben abstrahierte „Absicht der Unterweisung“ oder Belehrung widerspricht im Sinne der hier entwickelten Darstellung den Bedürfnissen des Kindes.
So ist auch verständlich, dass das konkrete Erscheinungsbild der einzelnen Waldorfkindergärten sehr unterschiedlich ist; nicht nur zwischen der Lebensgestaltung z.B. in Sao Paulo und Oslo liegen große Unterschiede, auch zwischen der konkreten Lebensgestaltung zweier Gruppen in einem Kindergarten. Diese letztlich wesenhafte Unterschiedlichkeit ist wichtiges Element des konzeptionellen Ansatzes der Waldorfkindergartenpädagogik, drückt sich doch in ihr erst die Identität von Intention und Erscheinung aus.
Lernen im Waldorfkindergarten:
Der Waldorfkindergarten versteht sich als „unmittelbarer Lernort“.
Das Kind lernt altersentsprechend, wenn das Leben um es herum Ausdruck von sinnvoller gestaltung ist, in der Erscheinung und innewohnendes Wesen, zum Beispiel Handlung und Intention des Menschen identisch sind.
Das Kind ist „ganz Sinnesorgan“.
Heiterkeit und Freude am Leben sind die entscheidenden Motivations- und Lernförderungen.